Wenn der Bordcomputer das Gaspedal übernimmt
Die renommierten Experten Wolfgang Kröger, Bernhard Gerster und Jürg Michel der Schweizerischen Akademie der Technischen Wissenschaften (SATW) haben ihre klugen Köpfe zusammengesteckt und über «Automatisiertes Fahren im Mischverkehr» debattiert. Die Autoren beleuchten auf vielfältige Art und Weise Chancen und Herausforderungen der automatisierten Technologie, thematisieren Sicherheitsaspekte und zeigen zeitliche Perspektiven auf. Dabei stützen sie sich auf Diskussionen und Empfehlungen von Experten aus der SATW-Themenplattform «Autonome Mobilität» und unterstreichen die Notwendigkeit einer kooperativen, serviceorientierten Verkehrswende. Tauchen Sie ein in die Zukunft der automatisierten Mobilität.
Automatisiertes Fahren im Mischverkehr
In den nächsten Jahren und Jahrzehnten wird sich die Mobilität grundlegend verändern: Um 2050 sollten Fahrzeuge elektrifiziert, automatisiert, vernetzt und stärker gemeinsam genutzt sein; bestehende Grenzen zwischen unterschiedlichen Verkehrsträgern sind zugunsten eines multimodalen Angebotes verwischt. Von technischer Seite gelten Digitalisierung und automatisierte Fahrzeuge diesbezüglich als Ermöglicher. Fahrzeuge, bei denen die Fahr- und Kontrollfunktion vom Menschen auf ein höchst anspruchsvolles technisches System über geht, versprechen durch Ausschaltung menschlicher Fehler eine weitere Abnahme der Zahl schwerer Unfälle, eine Steigerung des Komforts durch Wegfall lästiger Fahraufgaben und eine Glättung des Verkehrsflusses. Sie ermöglichen Nutzergruppen die Teilnahme am motorisierten Verkehr, die bisher davon altersbedingt oder aufgrund von Behinderungen ausgeschlossen waren. Die Vorteile kommen aber nur dann zum Tragen, wenn die Fahrzeuge ausgereift und sicher sind. Also die Sensorik, die sich ändernde Umgebung mit etwaigen Hindernissen verlässlich wahrnimmt und das an Bord befindliche leistungsfähige Computersystem die enormen Mengen anfallender Daten abgleicht und zu Entscheidungen verarbeitet. Und das alles «real time», elektronisch verbunden mit dem Hersteller sowie der Infrastruktur.
Die Milliardenschwere Entwicklung schreitet weltweit voran, hat in jüngster Zeit grosse Fortschritte, aber ernüchternde Rückschläge zu verbuchen. Während leistungsstarke Assistenzsysteme allmählich Einzug gehalten haben in Personenwagen der gehobenen Klasse und ab 2024 für Neuzulassungen Pflicht werden, gehen die Schätzwerte für hoch oder voll automatisierte Fahrzeuge weit auseinander. Einzelne Fahrzeuge, die innerhalb eines vorgegebenen Bereichs und bestimmten Bedingungen (also innerhalb des Operational Design Domain, ODD) selbständig fahren können, gibt es schon; Optimisten rechnen mit der kommerziellen Reife dieser sog. SAE level 4 Vehikel und beginnender Marktdurchdringung gegen 2030. Hoch automatisierte Fahrzeuge, die alles allein unter allen Bedingungen können (sog. SAE Level 5 Vehikel), brauchen sicher noch mehr Zeit. Prototypen könnten in einigen Jahren verfügbar sein, markttauglich – wenn überhaupt – wohl erst in den 2040iger Jahren.
Die gesamte Prozedur von der Entwicklung bis zur Baureife und behördlichen Zertifizierung ist noch nicht etabliert. In Europa zeichnet sich das schon übliche Prinzip der «Typengenehmigung» ab. Innerhalb eines mehrstufigen Prozesses hat der Hersteller nachzuweisen, dass das automatisierte Fahrzeug frei ist von unangemessenen Risiken für Insassen und andere verletzbare Verkehrsteilnehmer. Eine deutsche Ethikkommission fordert eine «positive Risikobilanz gegenüber heutigen, manuell gefahrenen Fahrzeugen; Dilemma-Situationen sollten gar nicht erst entstehen. Die Konkretisierung dieser recht vagen Sicherheitsanforderungen obliegt dem Hersteller; das EC JRC schlägt auf der Basis von Unfalldaten ein aggregiertes Akzeptanzkriterium von 10-7 Todesfällen pro Betriebsstunde vor, vergleichbar der Zielgrösse Schweizer Bahnen.
Die Themenplattform der SATW setzt sich derzeit mit der Frage «How safe is safe enough?» umfassend auseinander und wird dazu in Kürze einen Vorschlag unterbreiten.
Zur Validierung braucht es eine Kombination virtueller Verfahren (Szenariensimulation), Tests auf Prüfständen und in ausgewiesenen Zonen sowie schliesslich unter realen Verkehrsbedingungen. Trotz intensiver Validierungsbemühungen bleiben Unsicherheiten bezüglich ausreichender Datenlage und Testtiefe sowie unbedachte Risiken bei der Verkehrszulassung zurück; dementsprechend sollen Erfahrungen mit Unfällen und kritischen Situationen (bspw. von einer internen Blackbox) erfasst und auch mit Hilfe KI-basierter Systeme für Verbesserungen («updates») genutzt werden. Die Sicherheit ist also nicht statisch, sie sollte im Laufe der Zeit jedoch steigen. Sie kann aber auch zwischenzeitlich zurückgehen, worüber eine vertrauenswürdige (staatliche) Stelle informieren sollte.
Automatisierte Fahrzeuge werden über Kommunikationskanäle miteinander (V2V) vernetzt kooperieren, die Infrastruktur ist dem Automatisierungsgrad und ODD anzupassen und zu erweitern; ERTRAC 2018/22 schlägt dafür eine Kombination mit Infrastructure Support Levels for Automated Driving (ISAD) vor. Benötigt werden bspw. verlässliche Wegmarkierungen und Verkehrsleitsysteme mit aktuellen Informationen; über Kommunikationskanäle wird ein robuster Informationsaustausch mit anderen automatisierten Vehikeln ermöglicht (V2I).
Die Transformation des Verkehrssystems wird geprägt sein von einem Neben- und Miteinander von konventionellen und unterschiedlich automatisierten Fahrzeugen und anderen motorisierten und nicht-motorisierten Verkehrsteilnehmern. Diese neue Form des «Mischverkehrs» wird sich über lange Zeiträume hinziehen und stellt grosse Herausforderungen an die Beteiligten, von denen die Variabilität des menschlichen Verhaltens wohl die grösste ist. Je nach getroffenen Annahmen werden 2050 immer noch 40 bis 50 % der Fahrzeuge von Menschen gelenkt [ASTRA 2020]. Andere umfangreiche Marktdurchdringungsstudien [bfu 2020, Litman 2018, ERTRAC 2018/22] bestätigen grob diese Einschätzung und zeigen die wesentlichen Einflussfaktoren auf: die Nutzungszeit «alter» Autos (1), die sich durch kollektive Nutzung erheblich reduzieren liesse, die Verfügbarkeit flottentauglicher «bezahlbarer» Fahrzeuge mit hohem Automatisierungsgrad, die Kaufbereitschaft und regulatorische-rechtliche Massnahmen der öffentlichen Hand etc.
Neben der Verkürzung der Phase des Mischverkehrs ist der sichere, kooperative Umgang der Verkehrsteilnehmer zu organisieren und durch nötige Vorkehrungen zu unterstützen: Ausreichendes Verständnis für Fähigkeiten und Auslegungsprinzipen der «neuartigen Technologie» ist zu entwickeln, ebenso Entscheidungsalgorithmen für die Mensch-Maschine-Interaktion, die KI-basiertes «machine/deep machine learning» nutzen und bisher eingesetzte, auf regelkonformen Verhalten basierende Algorithmen, ergänzen bzw. ablösen.
Die Sensorsysteme sind hinsichtlich Objekterkennung und Zuverlässigkeit weiterzuentwickeln, die Energieeffizienz der Computersysteme an Bord durch neue Techniken und allfällige Cloudnutzung wesentlich zu erhöhen. Das Gesamtsystem braucht einen wirkungsvollen Schutz gegen Cyberangriffe, worin viele die wohl grösste Herausforderung sehen. Oft utopisch anmutende technische Hilfsmittel werden benötigt, um Verhaltensintentionen präzise zu antizipieren und so den Wegfall von oft per Handzeichen oder Gesten angezeigten Absichten menschlicher Strassenbenutzer zu kompensieren und eine Verschlechterung des Verkehrsgeschehens zu vermeiden (bfu, Abb. 15 einfügen). Rechtlich verbindliche Mindestanforderungen an Signalbilder gibt es heute noch nicht.
Die sich abzeichnenden neuen Mobilitätskonzepte sind komplexer als die heutigen, sind attraktiv, werden nach einer Eingewöhnungsphase für viele Gewinn bringen, ermöglichen neue Geschäftsmodelle. Dabei sind befürchtete Negativentwicklungen nach Möglichkeit zu vermeiden, wie ein beträchtlicher Mehrverkehr, z.T. verursacht durch eine Zunahme von Leerverkehr, eine weitere Zunahme der Zersiedlung und eine Schwächung der Angebote des «klassischen» öffentlichen Verkehrs. Zu klären ist, wer welche Rolle in dem zukünftigen System kooperativer, auf Service ausgerichteter Mobilität einnimmt, auch damit der «Mischverkehr» effizient und sicher funktionieren kann.
Schweizerische Akademie der Technischen Wissenschaften SATW-Themenplattform «Autonome Mobilität»
(1) Gemäss ASTRA TP 5 verschwinden 50% erst nach rund 17 Jahren aus dem Flottenverband, gemäss Auto-Schweiz nach knapp 15 Jahren.